Warum viele Menschen mit Autismus Schwierigkeiten mit dem Essen haben

Immer wieder berichten mir Eltern, dass ihre Kinder mit Autismus nur wenige Lebensmittel essen und sie froh sind, wenn die Kinder überhaupt irgendetwas zu sich nehmen. Manche berichten, ihre Kinder essen überhaupt nur drei verschiedene Speisen und würden lieber verhungern anstatt etwas Unbekanntes zu essen. (Und natürlich führt dieser Umstand zur logischen Schlussfolgerung, dass die Durchführung einer gluten- und kaseinfreien Ernährung für dieses Kind nicht möglich sei, weil man dem Kind ja nicht auch noch die letzten verbleibenden Lebensmittel vom Speiseplan streichen dürfe.) Kaum jemand weiß aber, warum das Essverhalten der Kinder so auffällig ist, wie man ihren Speiseplan erweitern kann und wie die Nahrungsaufnahme zu einem lustvollen Erlebnis wird. Es gibt gute Literatur zum Thema Essen und Kinder mit vielen guten Anregungen, die aber nicht unbedingt für Kinder mit autistischer Wahrnehmung geeignet sind.

Liegt es an den Eltern? An der Erziehung?

Gerade bei Kindern mit autistischer Wahrnehmung versagen oft alle gut gemeinten Tipps von Verwandten und Bekannten wie auch professionelle Tipps von Kinderärzten und Therapeuten. Meist bleibt den Eltern der bittere Beigeschmack, als schlechte Eltern, die ihre Kinder nicht zu erziehen verstehen oder denen es an Konsequenz fehlt, angesehen zu werden. Es ist aber ein großer Unterschied, ob ich ein neurotypisches Kind erziehe oder ein Kind, dessen Wahrnehmung sich auf einem extremen Level befindet. Das Versagen liegt dann selten bei den Eltern, sondern eher bei der Umwelt, die einfach ohne Hintergrundwissen kluge Ratschläge erteilt. Auch ich kann nicht DIE Lösung für IHR Kind aus dem Ärmel schütteln, aber ich möchte Ihnen helfen, das Verhalten ihres Kindes besser zu verstehen, damit Sie selbst die individuell richtige Lösung für Ihr Kind oder den Menschen, mit dem Sie arbeiten finden können.

Deshalb werde ich hier explizit auf das Thema Autismus und Essen eingehen, die möglichen Gründe für die Ablehnung der Nahrungsmittel darstellen und zum Schluss kurz die Brücke zur Ernährungsumstellung und ihre möglichen Folgen erläutern. Meine Tipps sind lediglich Strategien, die sich in der Vergangenheit bei vielen Menschen bewährt haben. Das heißt nicht, dass sie bei jedem funktionieren. Jeder Mensch ist einzigartig und man muss für jeden individuell die passenden Strategien finden. Es ist schwierig allgemeingültige Tipps zu geben, weil es sie nicht gibt. Welche Strategien sinnvoll zur Anwendung kommen, hängt von den Wahrnehmungsbesonderheiten der betroffenen Personen ab. Wie sie diese erkennen, habe ich habe ich in meinem 2015 erschienenen Buch „Wahrnehmungsbesonderheiten bei Menschen mit Autismus. Ein Leitfaden für Verständnis und Akzeptanz“ bereits dargestellt. Doch ich befürchte, das Thema Essen ist dabei etwas zu kurz gekommen. Dabei verdient gerade dieser Bereich, der doch großen Einfluss auf unsere Lebensqualität ausübt, mehr Aufmerksamkeit.

Wahrnehmungsbesonderheiten bei Menschen mit Autismus

Essen ist ein komplexer Prozess, der all unsere Sinne mit einbezieht. Deswegen haben auch alle Sinne Einfluss auf unser Essverhalten. Ist ein Bereich verändert, so ändert sich auch das Essverhalten. Für Menschen mit autistischer Wahrnehmung kann Essen eine ganz besondere Herausforderung darstellen. Sie hören, sehen, fühlen, schmecken und riechen anders als Menschen mit neurotypischer Wahrnehmung. Das heißt sie können zu intensiv oder zu schwach wahrnehmen, oder auch verzerrt wahrnehmen. So können Geruchs- und Geschmacksinformationen zu intensiv oder zu schwach wahrgenommen werden. Aber auch das Aussehen, die Textur, die Temperatur oder die durch das Essen verursachten Kaugeräusche können unangenehm oder schlichtweg gar nicht vorhanden sein. Aber auch von außen sind wir ständig irgendwelchen Reizen ausgesetzt, die auf unser Essverhalten Einfluss nehmen können. Damit das Essen zum Genuss wird, ist es wichtig, dass unsere Sinne gut aufeinander abgestimmt und ausgeglichen sind, das nennt man sensorische Integration.

Die Entwicklung unserer Sinne bestimmt auch unsere motorische Entwicklung, d.h. wir entwickeln uns entsprechend unserer Wahrnehmung. Und umgekehrt, kann auch die motorische Entwicklung Einfluss auf unsere Wahrnehmung haben. Ein Kind, das nicht sehen kann, entwickelt ein vorsichtiges und zurückhaltendes Bewegungsmuster. Hingegen kann ein Kind, das nicht kriechen, krabbeln und gehen kann, kein ausgereiftes Gleichgewichtssystem und nur eine unzureichende Raumwahrnehmung entwickeln. Wenn wir zu viel wahrnehmen, entwickeln wir Vermeidungsverhalten. Wenn wir zu wenig wahrnehmen, suchen wir entsprechende Reize (siehe Strasser, 2015).

Das Funktionieren unserer Sinne dient auch zu unserem Schutz, denn es hält uns von Gefahren fern. So trinken wir keine ätzenden Flüssigkeiten, weil deren widerlicher Geschmack und Geruch uns sofort Gefahr signalisiert. Bei unzureichendem Geschmacks- oder Geruchsempfinden begeben wir uns also in Gefahr. Es ist auch unwahrscheinlich, dass wir uns während eines Feueralarms gemütlich zum Tisch setzen um unser Pausenbrot zu genießen. Alle unsere Sinne liefern uns also lebenswichtige Informationen. Wenn sie aber zu empfindlich sind, wir also zu viel wahrnehmen, signalisieren sie unserem Körper umgekehrt dort Gefahr, wo gar keine ist. So vermeiden wir Situationen, die gar nicht gefährlich, sondern vielleicht sogar notwendig für uns sind. Wie zum Beispiel die Nahrungsaufnahme von normalen Speisen.

Einfache Tipps und Lösungen zur Förderung des Essverhaltens

Natürlich ist es hilfreich, therapeutisch in den Entwicklungsprozess einzugreifen. Dies ist aber gerade bei Erwachsenen ein langwieriger, aber äußert sinnvoller Prozess. Die Therapie setzt an der Ursache für die veränderte sensorische und motorische Entwicklung an und besteht aus einer Reihe individueller Übungen, die konsequent durchgeführt werden sollen. Allerdings brauchen wir manchmal eine Lösung mit Sofortwirkung. Und diese lautet: Erkennen, Verstehen und Akzeptieren der besonderen Wahrnehmung  sowie das Gestalten der Umgebung, sodass der Betroffene sich wohl fühlen kann.

Wir verfügen über sieben Sinne – ja es sind sieben und nicht nur fünf, wie wir es einst in der Schule gelernt haben:

Gleichgewicht, Gehör, Tastsinn, Tiefenwahrnehmung, Sehen, Geruch und Geschmack

Wie können sich Veränderungen in den einzelnen Sinnesbereichen nun auf das Essverhalten auswirken?

Gleichgewicht (vestibuläres System)

Das Gleichgewicht sitzt in unserem Innenohr und ist die Basis für unsere Grobmotorik und unsere Feinmotorik. Es ist eng verbunden mit den anderen Wahrnehmungsbereichen und kann sozusagen als zentrales Wahrnehmungsorgan angesehen werden. Es ist dafür verantwortlich, dass der Mensch bei Tisch sicher in seiner Sitzposition bleibt und nicht ständig seine Balance suchen muss.  Es ist aber auch dafür verantwortlich, dass die Hände die feinmotorische Fähigkeit haben, Speisen aufzunehmen, sei es mit den Fingern oder das verletzungsfreie Hantieren mit Essbesteck. UND es ist auch für feinmotorische Funktionen wie Beißen, Kauen und Schlucken verantwortlich.

Wenn nun das Gleichgewichtssystem nicht gut integriert ist, verbraucht der Mensch all seine Energie für die Herstellung und Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und der daraus resultierenden notwendigen Funktionen für die Nahrungsaufnahme. Die Fähigkeit zu sitzen, zu stehen und zu gehen allein, bedeutet noch nicht, dass das Gleichgewichtssystem auch gut ausgebildet ist. Ein Kind, welches Schwierigkeiten hat, ruhig bei Tisch zu sitzen, ist möglicherweise ständig um die Aufrechterhaltung seines Gleichgewichts bemüht. Auch die Fähigkeit Speisen gut zu kauen und zu schlucken kann dadurch beeinträchtigt sein, was zum Verschlucken oder gar zu Erbrechen führen kann.  Essen wird anstrengend und unbequem, die Motivation neue Nahrungsmittel zu probieren bleibt aus. Diese unangenehmen und angsterfüllten Erfahrungen bei der Nahrungsaufnahme prägen sich ins Gedächtnis ein und bleiben ohne Korrektur ein Leben lang erhalten und beeinflussen das Essverhalten nachhaltig.

Tipp:

  • Es ist wichtig, für einen guten, stabilen Sitz beim Esstisch zu sorgen. Dieser kann zum Beispiel durch stützende Pölster hinten und an den Seiten erzeugt werden. Es ist auch wichtig, dass die Füße nicht in der Luft baumeln, sondern einen festen Stand haben. Wenn die Beine noch nicht bis zum Boden reichen, dient ein Hocker als Fußstütze und sorgt für besseren Halt. Gerade bei kleineren Kindern in Hochsitzen kann oft eine instabile Sitzposition beobachtet werden. Wenn das Kleinkind bereits diese Unsicherheiten verspürt, hat dies Auswirkungen auf die Entwicklung des Essverhaltens.
  • Für andere kann es hilfreich sein, während der Mahlzeiten kurz aufzustehen und Bewegung zu machen. Auch das ausreichende Bewegen, z.B. Schaukeln vor dem Essen, kann das Gleichgewichtssystem mit genug Reizen versorgen, sodass der Betroffenen eine Weile still sitzen kann.
  • Ebenso kann es wichtig sein, dass der Teller nicht auf dem Tisch umher rutscht. Es gibt Teller mit Saugnäpfen, die sich fest an der Tischplatte befestigen lassen.  Wenn das Gleichgewicht und dadurch die motorische Entwicklung unausgereift sind, ist auch die Zusammenarbeit der Körperhälften nicht gut ausgebildet. Das äußert sich oft darin, dass nur eine Hand benutzt wird und die zweite, die Hilfestellung geben sollte, untätig bleibt. Beim Essen wäre es dann der Fall, dass die eine Hand zum Essen benutzt wird und die zweite Hand den Teller festhält. Funktioniert diese Zusammenarbeit nicht, rutscht der Teller fort.

Sie können einen Selbstversuch machen, indem sie versuchen auf einem hohen drehbaren Barhocker zu essen – ohne sich mit den Füßen oder den Händen abzustützen.

Gehör (auditives System)

Gerade das Gehör ist bei Menschen mit autistischer Wahrnehmung oft hypersensibel. Das heißt, sie hören nicht nur lauter, sondern unter Umständen auch andere Frequenzen, die Menschen mit neurotypischer Wahrnehmung nicht hören können. Zudem haben sie zumeist das Problem, unwichtige Geräusche (z.B. Hintergrundgeräusche) nicht ausblenden zu können. Sie nehmen alles in gleicher Bedeutung wahr ohne Unwichtiges auszufiltern.

Außerdem hören wir nicht nur Geräusche, die durch den Gehörgang in unser Innenohr gelangen (sogenannte Luftleitung), sondern auch durch die Knochenleitung. Wenn wir beißen, kauen oder schlucken erzeugt jedes Lebensmittel ein eigenes Geräusch, dass durch die Knochenleitung der Schädelknochen in unser Innenohr weitergeleitet wird. Menschen mit neurotypischer Wahrnehmung können diese Geräusche einfach als unwichtig ausfiltern, auch weil sie schwächer sind als Geräusche, die durch die Luftleitung in unser Innenohr gelangen.  Wenn diese Filterfunktion jedoch nicht funktioniert und ihr Gehör obendrein hypersensibel ist, können Essgeräusche als unerträglicher Lärm oder das Kauen bestimmter Speisen als unangenehme Frequenz wahrgenommen werden.

Auch Hintergrundgeräusche können Einfluss auf das Essverhalten haben, weil sie als unangenehm oder gar unerträglich wahrgenommen werden und so dem Betroffenen alle Aufmerksamkeit und Energie, die für die Nahrungsaufnahme notwendig sind, entziehen. Wie oben bereits erwähnt, werden sie während des Ertönens eines Feueralarms kaum in der Lage sein, eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Menschen mit hypersensiblem Gehör nehmen unter Umständen für uns unscheinbare und durchaus erträgliche Geräusche ähnlich einer Sirene wahr.

Tipp:

  • Ein Sitzplatz an der Wand und nicht frei im Raum kann hilfreich sein. Die Wand gibt Sicherheit und ist ruhig, d.h. aus dieser Richtung kommen weder Geräusche noch Bewegungen.
  • Das gemeinsame Essen mit anderen bei Tisch kann zu laut sein. Essgeräusche oder auch die Bewegung der anderen können als zu intensiv wahrgenommen werden. Manche Menschen brauchen beim Essen Ruhe. In diesem Fall sollte ein ruhiger Platz, wo alleine gegessen werden kann zur Verfügung gestellt werden.

Tastsinn (Taktilität oder Oberflächensensibilität)

Das Organ des Tastsinns ist die Haut. Er erlaubt uns Berührungen, Temperatur und Schmerz zu empfinden. So sind zum Beispiel unsere Hände ganz besonders berührungsempfindlich, weil sie uns als Werkzeug dienen. Noch empfindlicher allerdings ist der Mundinnenraum. Dies ist auch der Grund, warum Babys alles in den Mund nehmen. Sie erforschen auf diese Weise ihre Umwelt. Ist der Mundinnenraum nun zu empfindlich, wird das Kind vermeiden, Gegenstände in den Mund zu nehmen um daran zu lutschen, sie zu kauen oder zu schlucken. Im Gegenzug wird ein Kind mit schwachen Empfinden im Mundinnenraum dazu neigen, an allem und auch an gefährlichen Gegenständen zu kauen und diese eventuell auch unzerkaut zu schlucken.

So sind hypersensiblen Menschen Nahrungsmittel mit bestimmter Konsistenz wie z.B. breiförmig, körnig, zäh oder Getränke mit Kohlensäure, wie auch bestimmter Temperatur unangenehm und erzeugen manchmal sogar Erbrechen aufgrund eines gesteigerten Würgereizes. Sie neigen manchmal auch dazu, während des Essens große Mengen zu trinken, um die Speisen zu verflüssigen, möglichst rasch schlucken zu können und aus dem Mundinnenraum zu bekommen.

Hingegen neigen Menschen mit schwacher sensorischer Wahrnehmung im Mundinnenraum dazu, viel zu große Mengen auf einmal in den Mund zu nehmen. Erst wenn der Mund „vollgestopft“ ist, erhält das Gehirn das Signal, dass etwas im Mund ist. Es werden auch viel zu große Mengen auf einmal geschluckt. Auch dieser Umstand kann zu Würgen und Erbrechen führen. Die Folge davon kann sein, dass Essen keine lustvolle Erfahrung darstellt, sondern Angst und Unbehagen hinterlässt.

Tipp:

  • Wenn das Essen Angst macht, kann es auch durchaus hilfreich sein, wenn der Betroffene seine Speise zuerst mit den Fingern auf Konsistenz und Temperatur erforschen und prüfen darf. Das Einfordern allzu guter Tischmanieren kann dem Essen manchmal im Wege stehen.
  • Beobachten Sie genau, welche Speisen abgelehnt werden. Sind es hauptsächlich Speisen mit breiiger/körniger/harter/zäher Konsistenz? Wenn sie herausgefunden haben, welche Speisen abgelehnt werden, können sie darauf Rücksicht nehmen.
  • Üben Sie kleine Bissen zu sich zu nehmen und langsam zu essen, indem nach jedem Bissen der Löffel/die Gabel zur Seite gelegt wird. Beim Essen eines Brotes kann nach jedem Abbeißen das Brot erst mal auf den Tisch gelegt und erst nach dem Schlucken erneut an den Mund geführt werden.

Tiefenwahrnehmung (propriozeptive Wahrnehmung oder Tiefensensibilität bzw. Viszerozeption oder Wahrnehmung der Organtätigkeit)

Unter Tiefenwahrnehmung versteht man die Eigenwahrnehmung des Körpers. Sie dient der Wahrnehmung der Körperposition und der Bewegung und steht in enger Verbindung mit dem Gleichgewicht und dem Tastsinn. Durch die propriozeptive Wahrnehmung wissen wir stets, wo unsere Körperteile sich befinden und in welche Richtung, mit welcher Geschwindigkeit sie sich bewegen – die Propriozeption ist sozusagen die Feinabstimmung unserer Bewegung. Auch das Wissen, wo unsere Körperteile sich befinden, wenn wir sie gerade nicht sehen, verdanken wir der propriozeptiven Wahrnehmung. Ist dieser Wahrnehmungsbereich unzureichend ausgebildet, führt das zu Problemen beim Essen. Wenn man die Geschwindigkeit und die Kraft der Bewegung nicht abschätzen kann, kann das dazu führen, dass man den Saft über sein Hemd schüttet oder die Suppe nicht auf dem Löffel bleibt, die Kartoffel zerquetscht wird oder die Tomate sich nicht mit der Gabel aufstechen lässt, sondern vom Teller flutscht. Das ist anstrengend und frustrierend.

Tipp:

  • Ein schweres Kissen (z.B. mit Reis oder Sand gefüllt), dass man während des Sitzens auf die Oberschenkel legt, kann helfen sich und seine Position besser wahrzunehmen, beruhigt und ermöglicht, sich dem Essen in Ruhe zu widmen. Ebenso kann eine Gewichtsweste (erhältlich im Fachhandel oder selbstgenäht) diesen angenehmen Effekt hervorrufen.
  • Da das Trinken aus dem Becher oft schwierig ist, weil weder die Kraft noch die Geschwindigkeit mit denen der Becher an den Mund geführt wird gut koordiniert werden können, kommt es dazu, dass sich das Kind beim Trinken anschüttet. Durch ein schweres Glas und eine der Mundgröße angepasste Trinköffnung kann dies verhindert werden. Leere Gläser von Babynahrung (Hipp®-Gläser) eignen sich für diesen Zweck besonders gut.

Es ist aber auch möglich, dass die viszerale Wahrnehmung (dabei handelt es sich um die Wahrnehmung der Organtätigkeit) zu schwach ist und daher weder Hunger noch Sättigung gespürt werden. In diesem Fall ist es natürlich schwierig und es bedarf ganz besonderer Leckerbissen, den Betroffenem zum Essen zu bewegen. In solchen Fällen gilt die Aussage „bevor er verhungert, wird er schon essen“ nicht. Wer Hunger nicht spürt, der kann auch verhungern.

Tipp:

  • Das Einhalten von fixen Essenszeiten kann helfen, sich daran zu gewöhnen, wann und vor allem dass man essen soll.

Sehen (visuelle Wahrnehmung)

Nicht umsonst heißt es, „die Augen essen mit“. Der Sehsinn hat bei der Nahrungsaufnahme eine wichtige Bedeutung. Ob uns etwas schmeckt oder nicht, wird nicht ausschließlich von Zunge und Gaumen bestimmt, sondern auch von den Augen. Einer appetitlich aussehenden Pizza kann wohl kaum jemand widerstehen. Wenn man die Pizza allerdings im Mixer zu einem Pizza-Mus „zermixen“ würde, wäre es immer noch Pizza, aber niemand würde sie essen wollen.

Tipp:

  • Man sollte immer darauf achten, dass Speisen auch appetitlich angerichtet sind. Das Vorschneiden von Speisen ist sicherlich gut gemeint, gibt der Speise aber kein einladendes Aussehen. Es ist daher besser die Speise nur nach tatsächlichem Bedarf bei Tisch Bissen für Bissen zu schneiden und nicht schon im Vorhinein einen unansehnlichen Teller zu servieren, auf dem die einzelnen Bestandteile der Speise nicht mehr erkennbar sind.

Viele Menschen mit autistischer Wahrnehmung (aber auch die meisten Kinder) bevorzugen es, wenn Speisen auf dem Teller nicht miteinander vermischt werden. Da helfen Teller mit Unterteilungen, in denen Speisen getrennt voneinander angerichtet werden können.

Andere Menschen mit Autismus bevorzugen Speisen in einer bestimmten Farbe. Manche Farben werden als zu intensiv wahrgenommen und daher abgelehnt. Die gewählte Farbe scheint das Wahrnehmungssystem nicht zu überfordern und wird daher bevorzugt.

Tipp:

  • Kleine Portionen auf einem großen Teller geben nicht schon beim ersten Hinsehen das Gefühl, mit dem Essen überfordert zu sein. Man kann ja immer noch Nachschlag geben, wenn erwünscht.
  • Das getrennte Anrichten von Hauptgerichten und Beilagen sorgt dafür, dass sich die Speisen auf dem Teller nicht vermischen. Unterteilte Teller erfüllen denselben Zweck.

Geruch (olfaktorische Wahrnehmung) und Geschmack (gustatorische Wahrnehmung)

Es ist wohl leicht nachzuvollziehen, dass Geruch und Geschmack den größten Einfluss auf das Essverhalten ausüben. Es besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen diesen beiden Sinnen, deswegen macht es wenig Sinn, sie getrennt voneinander zu behandeln. Ohne Geruchssinn funktioniert das Schmecken nur unzureichend. Sie können einen Selbstversuch starten und mit zugehaltener Nase und verbundenen Augen versuchen, Speisen zu erkennen. Sie werden merken, dass Sie lediglich die Geschmacksrichtungen wie süß, sauer, scharf  oder salzig unterscheiden können, nicht aber genauer in z.B. Erdbeere, Banane oder Melone differenzieren können.

Nun kann die Geruchs- und Geschmackswahrnehmung von Menschen mit Autismus zu intensiv, zu schwach oder verzerrt sein, was dazu führt, dass Speisen nicht das gewünschte angenehme Geschmackserlebnis liefern, sondern ganz im Gegenteil, Ekel hervorrufen.

Nicht nur starke und eventuell unangenehme Gerüche wie z.B. Fisch, Karfiol oder Fett, können zu intensiv sein, sondern auch für andere Menschen angenehme Gerüche, wie der Geruch von Orangen oder eines Parfums einer Person im gleichen Raum.

Oft werden gewohnte Speisen plötzlich als ungenießbar abgelehnt weil Kleinigkeiten (z.B. ein Gewürz oder eine andere Sorte von Kartoffel) verändert wurden. So bestehen manche Menschen mit autistischer Wahrnehmung konsequent auf bestimmte Produkte von einer Herstellerfirma.

Tipp:

  • Beobachten Sie genau, welche Art von Speisen bevorzugt wird. Sind die Speisen eher fade und geschmacksneutral, dann können sie von einem überempfindlichen Geschmackssinn ausgehen. Verzichten Sie daher auf intensive Gewürze und benutzen Sie auch nur wenig Salz und Zucker. Werden hingegen würzige und scharfe Speisen bevorzugt, können Sie versuchen auch andere Speisen intensiver zu würzen, damit sie für den Betroffenen besser und interessanter schmecken oder überhaupt nach etwas schmecken.

Es  besteht aber noch eine weitere enge Verbindung des Geruchssinns mit unseren Gefühlen und unseren Erinnerungen. So kann der Geruch einer Speise, der in einer angstvollen oder anders unangenehmen Situation in unserem Gehirn gespeichert wurde, dafür sorgen, dass diese Speise auch noch Jahre später für uns unerträglich riecht und die gleichen Gefühle hervorruft. Aber auch Gerüche aus der Umgebung können diesen Effekt erzielen. Stellen Sie sich vor, sie sollen ein wunderbares Essen einnehmen, während der Raum nach WC riecht. Diese Gerüche sind in unseren Gehirnen mit Situationen verbunden, in denen wir nicht essen wollen.

Tipp:

  • Beobachten Sie genau, wie die Speisen riechen. Und vor allem, ob noch andere Gerüche (Reinigungsmittel, Parfums etc.) im Raum dominieren, die das Essverhalten beeinflussen könnten.

Soziales – wie gesellschaftliche Konventionen das Essen verderben können

Oberstes Prinzip ist die Vermeidung von Stress jeder Art während der Mahlzeiten. Mögliche Ursachen für Stress können auch sozialer Natur sein.

Das Bestehen auf konventionelles Essverhalten und Tischregeln kann für zusätzlichen Stress sorgen. Wenn es leichter ist, mit den Händen zu essen, dann soll es so sein. Man darf auch durchaus einmal mit dem Essen spielen, um seine Konsistenz zu erkunden. Und das Sprechen mit vollem Mund ist auch nicht wirklich verboten, kann also durchaus toleriert werden, wenn es der Sache dienlich ist. Nichts Schreckliches wird passieren, wenn diese in unserem Kulturkreis üblichen Tischregeln nicht eingehalten werden. Hingegen können sie bei strikter Einhaltung jede Menge Stress für den Betroffenen bedeuten.

Tischgespräche sollen angenehm und nicht belastend sein. Diskussionen über das Essverhalten des Betroffenen sind vollkommen unangebracht.

Was hat das nun eigentlich mit der Durchführung der gluten- und kaseinfreien Ernährung zu tun?

Wie eingangs bereits erwähnt, scheint die Durchführung einer Ernährungsumstellung auf den ersten Blick schier unmöglich, wenn man ein Kind mit Essproblemen hat. Das muss aber keineswegs so sein, denn die Ernährungsumstellung wirkt sich in erster Linie positiv auf die besondere Wahrnehmung der Betroffenen aus. Rückt die Wahrnehmung näher an den Normalbereich heran, verringern sich die Symptome, die durch die besondere Wahrnehmung verursacht wurden. Es ist also oft der Fall, dass es Menschen, die besonders sensibel bei der Nahrungsaufnahme sind und nur wenige Speisen tolerieren, erst durch die Nahrungsumstellung möglich ist, sich auf neue Speisen einzulassen. Wenn die Wahrnehmung keine zu intensiven, zu schwachen oder verzerrten Informationen mehr liefert, kann der Speiseplan langsam erweitert werden.

Strasser, Susanne (2015). Wahrnehmungsbesonderheiten bei Menschen mit Autismus. Ein Leitfaden für Verständnis und Akzeptanz. Graz: Strasser